Platanen­hain

Entwurf:1911 - 1914Fertig­stellung:1914

Künstler:Bernhard Hoetger (1874 – 1949)

Der um 1830 angelegte Platanen­hain ist als Teil der zu Beginn des 19. Jahr­hunderts von Prinz Christian angelegten Parkanlage Mathildenhöhe mit seinen regelmäßig gepflanzten und ge­schnittenen Bäumen bis heute erhalten. Der Hain wird nach Osten und Süden zum Teil von einer Stützmauer begrenzt und im Norden und Westen von einer efeu­umrankten Spalierwand umgeben. Er ist ein frei zu­gänglicher, in sich ge­schlossener Ort.

Bernhard Hoetger wurde 1911 von Groß­­herzog Ernst Ludwig an die Künstler­­kolonie in Darmstadt berufen um diesen Hain für die vierte Aus­stellung auf der Mathildenhöhe 1914 künstler­isch zu gestalten. Hoetger nutze diesen Auftrag, um ein Gesamt­­kunstwerk mit Skulpturen, Relief­wänden und Inschriften zu entwickeln, in dem das Thema Werden und Vergehen – der Kreislauf allen Lebens – mit dem Symbol des Wassers seinen künstler­ischen Ausdruck findet.

Das Portal:

Auf den Pfeilern zu beiden Seiten des südlichen Eingangs kauern sprung­bereite bronzene Raubkatzen, die auf ihren Rücken kleine Kinder tragen.

rechter Pfeiler: Silberlöwe/Puma

Der Puma wird wegen seines hellgrauen Fells auch Silberlöwe genannt. In der chines­ischen Mythologie wird er in eine Verbindung mit der Sonne gesetzt und steht damit auch für den Tag. Der beginnende Tag erscheint hier in Gestalt eines Kindes, dessen junger Körper sich nach Osten der aufgehenden Sonne entgegenstreckt.

linker Pfeiler: Panther/Leopard

Der Panther schlafe, so die Über­lieferung, nach jeder Mahlzeit drei Tage lang und wird damit auch als ein Symbol für Tod und Auf­erstehung gedeutet. Das Kind auf dem Rücken des Panthers scheint ebenfalls zu schlafen, sein Körper ist der unter­gehenden Sonne zugewandt. Dem Kreislauf der Sonne entspricht auch der Kreislauf allen Lebens.

Die Inschriften auf den Pfeilern

Die Bronze­skulpturen des Portals wurden durch künstler­isch gestaltete Inschriften auf den Pfeiler­wänden ergänzt, die in ihrem Inhalt auf das Gesamt­­kunstwerk Platanen­hain Bezug nehmen. Dem rechten Pfeiler ist ein Zitat aus dem Großen Sonnen­hymnus des Pharaos Echnaton ein­geschrieben und nimmt damit das Thema des erwachenden Tages auf.

Die Inschriften auf dem linken Pfeiler, einer alt­ägyptischen Handschrift entnommen, zitieren das „Brunnen­gebet“ aus dem Papyrus Sallier I. Sowohl der Kreislauf der Sonne mit dem Tag und der Nacht als auch das Element Wasser werden mit den Skulpturen und den Inschriften als zentrale Themen des Ensembles an­gesprochen.

Brunnen­gruppe

Der südliche Eingang lenkt den Blick geradeaus hin zu einer architekt­­onisch gestalteten Brunnen­gruppe mit drei Wasser­trägerinnen, einer kunstvoll gearbeit­eten Brunnenwand mit wasser­speienden Engels­köpfchen und sechs zu beiden Seiten in Reihe sitzenden Wächter­löwen. Ein von Efeu umranktes Gitterwerk bildet eine schützende Nische und weist dem Kunstwerk einen ihm eigenen Ort zu.

Brunnen­gruppe: Inschrift

In die bildlich und ornamental gestaltete Brunnenwand ist die erste Strophe des Gedichts „Gesang der Geister über dem Wasser“ von Johann Wolfgang von Goethe eing­emeißelt. Es erzählt vom Kreislauf des Wassers, vom Himmel zur Erde und wieder hinauf und ist Teil des großen Themas: Werden und Vergehen, als Kreislauf in der Natur.

Krug­­träger­innen

Sieben zu beiden Seiten des Brunnens auf­gestellte Wasser­trägerinnen in Nischen gerückt, tragen symbolisch das lebens­spendende Wasser in die Welt. Diese Figuren ergänzen thematisch die zentrale Brunnen­gruppe der Nordseite des Hains. Wie auch bei den anderen Skulpturen ist die ur­sprüngliche farbige Fassung nicht erhalten geblieben.

Relief­wände: Frühling, Sommer, Schlaf, Auf­erstehung

Im Westen und im Osten stehen sich zwischen den äußeren Baumreihen je zwei allegor­ische Relief­wände einander gegenüber. Sie thema­tisieren „Frühling“, „Sommer“, „Schlaf“ und „Auf­erstehung“ und sind zentrale Dar­stellungen des Skulpturen­­programms im Platanen­hain: dem Zyklus von Werden und Vergehen allen Lebens.

Die vier Relief­wände haben kompo­sitorisch den gleichen Aufbau: Sechs stehende Figuren sind im Wechsel mit fünf hockenden oder knienden Figuren aufgereiht. Die Figuren stehen durch Haltung und Gestik in Kommuni­kation zueinander, manche scheinen in sich gekehrt zu ruhen. Die ehemals stark betonten Augen- und Lippen­konturen verliehen dem kon­templativen Ensemble ausdrucks­starke Akzente.

Den Typus der polynes­ischen Menschen in der Malerei Paul Gauguins, dessen Werk Hoetger schon aus seinem Pariser Leben bekannt war, findet in den Relief­figuren einen Widerhall. Im Platanen­hain setzt der Bildhauer aktuelle Impulse seiner Zeit auf eine ebenso eigen­willige wie auch über­zeugende Weise in seinen Werken um.

Mit den Figuren der Relief­wände findet Hoetger zu einer archaischen Ausdrucks­kraft, die den Impres­sionis­mus des 19. Jahr­hunderts gänzlich überwunden hat. Aristide Maillols reine Linie des Körpers aufnehmend und darüber hinaus zur ver­einfachten Form geführt, ver­schmelzen diese Werke fern­östliche Physio­gnomien mit der kon­templativ anmutenden Körper­sprache außer­europäischer Kulturen. Die stehenden und hockenden Figuren strahlen eine heitere Gelassen­heit aus, die träumerisch und nicht mehr an Zeit gebunden scheint. 

Skulptur „Sterbende Mutter mit Kind“

Die liegende Figur der sterbenden Mutter ist zum Hain hin aus­gerichtet. Auf ihren linken Arm gestützt scheint sie den Oberkörper noch ein wenig aufrecht halten zu können. Ihr Kopf aber ist nach hinten geneigt, was der Sterbenden einen schon der Welt entrückten Ausdruck verleiht. Auf dem Schoß der Mutter sitzt vom drama­tischen Geschehen scheinbar unberührt, gedanken­verloren das kleine Kind, eine Frucht in seinen Händchen haltend.

Der in Fischerhude 1913 entstandene Entwurf für ein Grabmal der früh ver­storbenen Malerin Paula Modersohn-Becker wurde von Hoetger ein Jahr später in das Ensemble auf der Mathildenhöhe integriert. Das indi­viduelle Schicksal der Künstlerin wird hier als Teil des Werdens und Vergehens allen Lebens in der Natur dargestellt.

Hoetger achtete darauf, dass der Stein auch an den farbig gefassten Partien in seiner Struktur sichtbar blieb. Während die Bemalung der Figuren in gedämpften Tönen vorgenommen wurde, wählte Hoetger für die Betonung der Lippen ein reines Rot, ein Schwarzgrau für die Haare und Augenbrauen sowie zur Betonung der Pupillen. Die Skulpturen blieben in manchen Teilen auch stein­sichtig belassen. Die Farbe ist schon früh verloren gegangen, das Spiel von Material und Form ist aber trotz der ver­witterten Oberfläche bis heute wahrnehmbar.

Sockel der Skulptur mit Löwen

Die Architektur des Denkmals „Sterbende Mutter mit Kind“ entspricht der Tradition römisch-antiker Sarkophage. Die Deckplatte ist mit stilisier­ten Wolken geschmückt, die Ecken mit Akroterien, die als Greifvögel aus­gebildet sind. Die Platte, auf der die Skulptur ruht, wird von fünf steinernen Löwen getragen. Auch die Reihung der Tiere entspricht dem Schema alter­tümlicher Grabmale.

Sockel der Skulptur: Inschrift

Im Hintergrund zwischen den Löwen sind Zitate aus den frühen hinduist­ischen Texten der Bhaga­vadgita als Inschrift zu lesen.

Hoetger entwirft für den Platanen­hain einen eigenen Schrift­typus, die Inschriften sind damit erläuternd und zugleich ornamental gestaltend. Dieses Kunstmittel wurde mit dem ur­sprünglich blau­farbigen Hintergrund verstärkt und bringt Schrift und Kunstwerk als Einheit zur Geltung. Die schwer lesbare Schrift fordert eine besondere Aufmerk­samkeit ein und verstärkt damit die Wahrnehmung des Ensembles mit seinen viel­gestaltigen Objekten.

Schakal­vasen

Zu beiden Seiten der Mutter-Kind-Skulptur sind je zwei steinerne Gefäße aufgestellt, an denen sich paarweise in Gussstein gestaltete Schakale zum Rand hin emporziehen. Mit ihren schlanken Körpern, vor­gestreckten Schnauzen und spitz auf­gestellten Ohren können sie als Wüsten­füchse oder Schakale bezeichnet werden. Setzt man diese Tierfiguren in Verbindung zum ägyptischen Totengott Anubis, lässt sich eine Beziehung zum Denkmal der sterbenden Mutter herstellen.

Schakal­vasen: bärtige Maske

Die bärtigen Masken am Fuße der Vasen sind mit ihrer archaischen Physio­gnomie und einer blockhaften Grundform der romanischen Formen­sprache entlehnt. Auch sie stehen für einen Unheil abwehrenden Charakter und können damit in eine Reihe mit den Wächter­löwen der Brunnen­gruppe gestellt werden.

Löwenvasen

Im Süden sind zehn von Löwen getragene Steinvasen als Pflanz­gefäße für Agaven aufgestellt. Die unter den Vasen Rücken an Rücken sitzenden Tiere sind nach Osten und Westen gerichtet. Im Vergleich mit alt­ägyptischen Vorbildern würden sie den östlichen und den westlichen Horizont symbol­isieren und damit den Auf- und Untergang der Sonne benennen. Dies entspricht den Bronze­skulpturen Tag und Nacht der Pfeiler des südlichen Portals.

Ur­sprünglich standen die fünf westlichen Pflanz­gefäße erhöht, auf einer den Platanen­hain nach Süden ab­schließenden Mauer. Ihre ur­sprüngliche Farbfassung ist fast vollständig verloren gegangen. Die ockergelben Mähnen der Löwen hoben sich vor einem in dunklen Blautönen gehaltenen Hintergrund ab. Die Vasen selbst waren mit einem blau-weiß-orangenem Zacken­ornament­band geschmückt. Heute zeigt sich die ur­sprüngliche Bemalung nur noch an wenigen geschützten Partien.

Ein Gesamt­­kunstwerk im Platanen­hain

Dieses Skulpturen­ensemble ist als Einheit in seiner außer­ordentlich originellen Umsetzung mit allen künstler­ischen Elementen erhalten. Trotz witterungs­bedingter Verluste der Farbigkeit lässt sich auch heute noch ein vom Künstler entworfenes mytho­logisches Weltbild erkennen, das ein wichtiges Zeugnis der kulturellen Strömungen zu Beginn des 20. Jahr­hunderts darstellt.

Der Besucher wird eingeladen, sich auf eine kon­templative Reise durch das Skulpturen­ensemble zu begeben. Dann erschließt sich ihm eine universelle Welt, die Immanenz und Trans­zendenz, die archaische Formen, alt­ägyptische Über­lieferungen und fern­östliche Religions­philosophie mit den Grundlagen christlich-abendländischer Kultur zu vereinen vermag.